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Otto Schindler, Martin Oster, Jochen Reiml & Friends | 360°

Stefan Scherer | Kunst und Texte | Schindler, Oster, Reiml u.a. – 360° | 11.02.2012 – AK68 Galerie im Ganserhaus

 

360° ist erst mal alles, der komplette Radius, die ganze Drehung, etwas für Akrobaten und Überwachungskameras. Er verspricht ein Maximum an Übersicht, fordert in dieser Schau aber genau so viel Beweglichkeit, intellektuell wie emotional und ist richtig was für Geist und Knochen, wenn man erst mal durch Martin Osters Videotunnel und danach über die Schulbücher in Schindler und Reimls bodenlosen Inszenierungen balanciert.

 

Martin Oster – real artificial 2.0

 

Los geht’s aber mit den Leuchtkästen von Martin Oster. Den ersten, „Rat“, sieht man schon im Schaufenster des Ganserhauses. Ein bisschen wie Leuchtreklame, und schaut man genauer, erkennt man den absurden computertomographischen Scan eines Stofftieres in cooler Werbe-Ästhetik.Als Sehgewohnheit verortet man diese Leuchtkästen normalerweise in Bahnhöfe oder ins allgemeine Großstadtmobiliar mit ihren wenig spektakulären Botschaften.Martin Oster verpasst ihnen aber wider erwarten diesen technoid-surrealen Inhalt. Martin selbst erzählte mir dazu:

 

„Meine Spielzeug-Leuchtkästen kennst du ja. Hier geht es im weitesten Sinne um das Eindringen in einen Körper, um dessen Seele zu entdecken.Mit der Arbeit an den CT Scans hat sich schnell die Frage ergeben, wie bring ich die generierten Bilder aus dem „Computer“ in die physische Welt.Dann dachte ich an die Malerei, durchleuchten, … und kam auf Leuchtkästen.“

 

Die Weiterentwicklung von Martins virtueller Innenweltsuche ist sein, extra für das Ganserhaus modifizierte Videoinstallation „realartificial 2.0“ die aus den Räumen unserer Galerie einen spektakulären Videotunnel macht. Die Projektionen sind eine computertomographische Reise durch das Innere einer, im hinteren Raum von der Decke hängenden kleinen Skulptur und ganz ähnlich, wie wir es vielleicht aus Fernsehreportagen über bildgebenden Verfahren in der modernen Medizin kennen, als Reise durch den Körper und seine Organe. Auf durch den ganzen Raum im Erdgeschoss gespannten Segeln spiegeln sich die Projektionen, sichtbar auf Vorder- und Rückseite. Es entsteht der Eindruck sich innerhalb dieser abstrakten Welt zu befinden und so kann man das nun großformatige Innere seiner kleinen Skulptur, begleitet von Osters selbstkomponierten Sound nun tatsächlich körperlich durchschreiten, wahrnehmen und vielleicht sogar begreifen

 

Zu diesem Begreifen sagte mir Martin Oster folgendes:

 

„Meine Realität ist nicht nur davon abhängig, in wie weit ich etwas anfassen kann. Musik kann ich nicht anfassen aber begreifen und erleben. Interessiert hat mich damals und jetzt die Verbindung zu unserem jetzigen digitalen Zeitalter. Mich interessiert die Art, wie wir uns erinnern und woran. An Erlerntes und Erlebtes und wie sich dieser Prozess in einer digitalen Welt verändert. Der Teller auf dem gerade meine Pizza liegt ist greifbar, wie die Platte auf der meine Musik spielt. Sie enthält ja zusätzlich noch die weiteren, physischen Informationen einer Abfolge von Tönen und die Pizza trägt die Info des Geschmacks.“

 

Nachdem nun dieser Raum der Galerie, unser jetzt surreales Videogewölbe einer tatsächlichen Welt, nämlich das Innere eines Kunststoffknubbels durchschritten ist, sieht man die Skulptur, also die Hardware im folgenden Raum dann auch von der Decke hängen, eskortiert von den großen Leuchtkastenfiguren, Alexia, Song und Vega, Roboman und ein bisschen kleiner, als Print hinter Plexiglas: Heman, Alexia und Skeletor, die – ich muss es sagen – wirklich sehr günstig zu erwerben sind. Am Ende dieses geheimnisvollen, wie ästhetischen Kosmos zwischen Realität und virtuellen Wahrheiten befindet sich ein Skulpturenkasten, ein kleines Guckkastentheater mit all den Protagonisten dieser ironisch fragenden und unerforschten Innen- und Außenwelten des Martin Oster.

 

Schindler, Reiml & Friends

 

Ich persönlich würde an dieser Stelle nun raten an der Bar erst mal einen Drink zu nehen oder wenigstens mal tief durchzuatmen bevor es weitergeht, die Treppe hoch zu „Schindler-Reiml & Friends“ in eine atemlose Kollage aus dokumentierten Sozialexperimenten, deren Lust und Grausamkeit aus Vergangenheit und Gegenwart, scheinbar beliebigen sprachassoziativen Installationen, Metaphern von Heimat und Heimatlosigkeit, schwimmend auf einem Meer aus Schulbüchern und angeschwemmten Strohballen. Das ist erst mal überfordernd, desorientierend und unwiderstehlich. Und als ich für diese Ausstellungsbesprechung mal nachfragte, mailten mir Otto Schindler und Jochen Reiml folgendes zurück:

 

„360° ist ein Storyboard. – Darin geht es um Leben oder Tod. – Aber wie!! – Alpträume und Träume nehmen Abschied vom Mond und Enttäuschungen finden sich im Technodrom wieder. – Der Dopplereffekt hat ausgedient, weil es nun von allen Seiten kracht und das in Echtzeit zeitlos! – Aber manchmal schwingt auch die Stille. „Wohnung der Zukunft zu erschwinglichen Preisen“ oder als Alternative die „Swinging iCloud“. – Was hier auf der Erde keinen Platz mehr hat zieht zum Planeten Erdbeere! – Wer immer noch keinen Durchblick hat, der guckt ins schwarze Loch und findet nur „Leere in Hülle und Fülle. – Herzerfrischend und traurig, zukunftsweisend und deprimierend zugleich. – Zwickmühlenaggregat mit Dominoeffekt. – Wer falsch spielt, fliegt raus! – Ideale ade! – Der Film ist gerissen. – Ein Salut auf das Leben und Grüß Gott die Kunst.“

 

Soweit die Mail der Künstler und „Die machen`s mir auch nicht leicht.“ dachte ich. Als ich die Show dann aber aufgebaut sah fand ich dann doch alles wieder: den Abschied vom Mond, diese Fotoserie von Dominik Dittberner, die „swinging i-cloud“, eine Installation von Otto Schindler und Phillip Hibler, den Planeten Erdbeere als großformatige Fotographie, und der Dominoeffekt als Foto und Tragetasche.

 

Für die Alpträume, – der Begriff ist hier nicht ganz ausreichend, weil es die tatsächliche lebenswirkliche Katastrophe unterschlägt – stehen die Fotografien von Alexander Johann, Porträts verletzter und misshandelter Menschen aus dem Soweto der 90er Jahre.

…aber schön der Reihe nach.

 

Dominik Dittberner – Der Abschied vom Mond

 

Die Treppe hoch und vorbei an einer abstrakten Weltkartenfotomontage, geht es zunächst ins Dominik Dittberners dunkles Fotokabuff – für die Galerie ein ausstellungstechnisches Novum und extra gebaut – nie zuvor gab es so einen Raum im Ganserhaus.

 

„Der Abschied vom Mond“ so titelt Dittberner seine fotografische Sozialstudie über die alternativ bis subversive Jugendkultur Berlins. Dittberners Fotos dokumentieren, über die rein ästhetische Oberflache hinaus, die Anstrengungen vieler junger Leute, sich im urbanen Umfeld einen Raum, einen Freiraum zu schaffen oder zu erhalten. Dominik Dittberner erklärte mir folgendes dazu:

 

„Anfang der 90er Jahre sah der Potsdamer Platz in Berlin noch wie eine Mondlandschaft aus. 20 Jahre danach sind bereits viele Brachen und Freiräume innerhalb der Stadt verschwunden…Die Entdeckung und temporäre Aneignung von Orten, die keinen vordefinierten Nutzen für eine urbane Infrastruktur haben, kann auch als ein politischer Akt verstanden werden… Für ein paar Stunden entsteht eine Gemeinschaft zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen Intimität und Anonymität.“

 

Otto Schindler – Jochen Reiml – Alexander Johann

 

Im nächsten Raum gerät man nun endgültig in die Atem- wie bodenlose Tragik-Sozial-und-Polit-Groteske von Otto Schindler und Jochen Reiml, immer wieder zensiert durch Alexander Johanns schwarzweiß-ästhetische Fotos eines grausamen Alltags in Südafrika. Mitten im Raum steht der „weise Zwerg“, ein angedachter astronomischer Guckkasten auf Gummistiefeln – der Zwerge wegen -, und in seinem Inneren erkennt man dunkel kryptische Mitteillungen. Und die Assoziation „weißer Zwerg“ als astrophysikalisches Phänomen ist auch erlaubt, denn dahinter steht, als riesiges großformatiges Foto der „Planet Erdbeere“

 

Alles zusammen setzt erst mal eine irritierende Assoziationskette in Gang immer wieder gebrochen, um nicht zu sagen korrigiert durch Alexander Johanns dramatische Fotos verletzter, geschlagener und geschundener Menschen.

 

Wie weit darf Kunst gehen steht nun als Provokation im Raum und die Frage: „Kompensiert der künstlerische Kontext den Verdacht des Voyeurismus.“

 

Ich werde das für den Betrachter nicht beantworten können. Diese provozierte Ambivalenz ist Teil der Ausstellung. Vielleicht ist es aber hilfreich zu wissen, das Alexander Johann nicht nur als Künstler sondern auch als Arzt in Südafrika tätig war und die gezeigten Fotos abgesehen von ihrem künstlerischen Wert Dokumente seiner Arbeit und Erlebnisse im Soweto der neunziger Jahre sind und ich freue mich sehr; dass er heute Abend hier anwesend sein kann.

 

Und weiter geht’s im Rundgang vorbei an Schindler/Reimls gerahmten Dominotheorien samt bedruckter Tasche im kleinen Durchgang.

 

Otto Schindler, Phillip Hibler – Wohnen zu erschwinglichen Preisen

 

Und was man dann zu sehen bekommt ist ein Art Schaukel oder Wippe. Alle sechs Minuten versetzt ein Propeller das kleine Modell eines Townshipdetails in Schwingung.

 

„Wohnen zu erschwinglichen Preisen“, so der wortsinnige Titel der Arbeit ist das Gemeinschaftswerk von Otto Schindler und des jungen Phillip Hibler, der annähernd zwei Jahre daran gearbeitet hat und nicht zuletzt lassen hier die britischen Brüder Chapman grüßen mit ihren kunstpreisgekrönten Kunststoffmodellen. Begleitet wird dieses Thema “Wohnraum und seine Ambivalenz“ unter anderem durch ein großformatiges, in das Licht einer Sonnenfinsternis getauchten Ansicht des neuseeländischen Stadt Christchurch vor seiner Zerstörung durch das bekannte Erdbeben.

 

Es geht um Leben und Tod, wie Otto mir zu Anfang schrieb und hier am Ende im letzten, kleinen Raum dieser 360 ° Ausstellung endet sie in einer fast biblischen Geburtszimmerinszenierung. Stroh am Boden, das Foto einer verhüllten Figur mit kleinem Stoffeselchen als Madonnenvermutung und auf dem Mauerabsatz Alexander Johanns Fotos einer Geburt im Township. Am Eingang aber das Porträt einer Frau, die dem Betrachter durch ein Herzmodell entgegensieht. „Mit dem Herzen sieht man besser“ zitiert Otto Schindler

 

Stream of conciousness

 

Das ist viel und schwer und leicht. Und schwer ist es auch sich dem zu öffnen oder zu entziehen. Die leichte Konsumentenhaltung reicht nicht, es bleibt einem in der Seele stecken. Es braucht, um diese Flut an Bildern und Eindrücken zu erfassen trotz aller Ratlosigkeit, größtmögliche Offenheit. „Stream of conciousness“ war nun der Hinweis einer Freundin. „Der Bewusstseinsstrom“ Das bezeichnet in der Literaturwissenschaft eine Erzähltechnik, die in ungeordneter Folge Bewusstseinsinhalte einer oder mehrerer Figuren wiedergibt. Als Verarbeitungs- und Betrachtungsmodell würde das im übertragenden Sinne für unsere 360°Ausstellung den Verzicht auf den roten Faden bedeuten, Verzicht auf den großen Konsens, die erlösende oder heilende Interpretation, sondern die Anerkennung des grausamen, wie lustvollen Nebeneinanders der uns begegnenden Phänomene, der Lebenswelten und Totenreiche.

 

 

Stefan Scherer | 11.02.2012

 

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